Twitter ist das bessere Google Plus

Etwas Wichtiges vorab: Bevor ich mit dem eigentlichen Punkt loslege, eine kleine Info, die vielen Menschen den Tag retten kann. Wer heute in der Weboberfläche von Twitter das Gefühl bekam, dass sich Krebsgeschwüre in den Augen bilden, wer mit dem neuen Twitter und seinen wenig erbäulichen Konzepten von Benutzerführung nicht klar kommt, wer unbedingt eine gewohnte, einfache Ansicht haben möchte… es gibt Abhilfe. Die Version für mobile Endgeräte unter mobile.twitter.com kann auch mit einem »normalen Browser« benutzt werden und ist in meinen Augen wesentlich besser zu bedienen. Für einige Funktionen – vor allem Listen und idiotische Follower als Spam melden – ist allerdings ein bisschen Klicken im neuen Twitter erforderlich. Aber es ist dann schon deutlich weniger.

So, jetzt aber zur Sache.

Immer wieder lese ich, dass Twitter im gegenwärtigen Gerangel zwischen Facebook und Google Plus auf der Strecke bleiben könnte. Die erzwungene Umstellung der Benutzeroberfläche ist in diesem Zusammenhang ein zusätzlicher Sargnagel für Twitter, da sie Menschen wirksam vom Twittern über die Weboberfläche abhält¹.

Diese Gefahr sehe ich nicht. Ganz im Gegenteil: Twitter ist zumindest im Moment das bessere Google Plus, und zwar aus folgenden Gründen:

  1. Bei Twitter kann man mit einer sehr geringen Einstiegshürde loslegen. Selbst das neue Twitter erklärt sich fast unmittelbar von selbst. Registrieren, Bestätigen, Loslegen.
  2. Niemand zwingt einen Twitter-Nutzer dazu, persönliche Informationen anzugeben und sich Gedanken darüber zu machen, in welchem Rahmen diese sichtbar werden sollen. Was man angibt, ist immer für alle sichtbar, oder aber, man benutzt aus irgendwelchen Gründen ein vollständig privates Profil, bei dem für jeden anderen einzeln der Zugriff freigegeben werden muss. Diese Alternative versteht jeder sofort, weil sie einleuchtet.
  3. Es ist möglich, pseudonym an Twitter teilzuhaben. Und es ist möglich, einen Twitter-Account mit einer Wegwerf-Mailadresse einzurichten. Dies kann in manchen Situationen unendlich nützlich sein. Es soll ja Staaten im Nahen und im Fernen Osten geben, in denen nicht lange gefackelt wird, wenn jemand seine Unzufriedenheit mit gesellschaftlichen Zuständen äußert. Doch selbst in der Bundesrepublik würde mancher mit Schere im Kopf schreiben, wenn er daran denken müsste, wie seine Äußerungen wohl beim Personalchef ankommen, wenn er sich einmal um einen neuen Job bewerben muss.
  4. Twitter hat noch niemals zur Einsendung eines Scans einer Ausweisurkunde aufgefordert und will auch keine Telefonnummer wissen, um einen Account nach einer Unstimmigkeit wieder freizuschalten.
  5. Twitter hat eine dokumentierte API und es gibt jede Menge nützlicher Tools für fast jeden Geschmack und fast jedes System.
  6. Twitter kann als Authentifizierungsdienst für andere Angebote verwendet werden, ohne dass dabei die Privatsphäre beeinträchtigt wird, wenn man bei der Twitter-Nutzung auf Anonymität achtet. Es ist möglich, mit seinem Twitter-Account eine Identifikation bei anderen Diensten zu erbringen, ohne dass ein Rückschluss auf die konkrete Person ermöglicht werden muss.
  7. Twitter gehört (noch) nicht dem größten Datensammler des Internet, dessen Datenhunger schier unersättlich zu sein scheint, so dass zum Beispiel auch mal eben illegalerweise, aber dafür systematisch WLAN-Hotspots beim Vorbeifahren erfasst und kartographiert werden.
  8. Twitter ist kein umfassendes Angebot aus einem Guss, sondern beschränkt sich auf einen überschaubaren Kern. Auf diesem Kern setzen über die API allerlei Zusatzdienste auf, mit denen unter anderem längere Texte verfasst oder Bilder und Videos hochgeladen werden können. Bei diesen Zusatzdiensten gibt es Auswahl, was nützlich sein kann, wenn sich einmal einer dieser Anbieter als unterdrückerisch erweist. Google hält indessen alles bei Google und kann umfangreich unerwünschte Dinge entfernen, ja, tut dies sogar aus willkürlichen, nicht näher erklärten Gründen.
  9. Twitter nötigt die Menge seiner Anwender nicht dazu, kostenlos einen gewichteten sozialen Graphen eines erheblichen Teiles der Weltbevölkerung zu erstellen, wie es Google tut. Tatsächlich ist es ungleich schwieriger, die Tätigkeiten eines Menschen auf Twitter automatisch auszuwerten, was eine leichte Vorbeugung gegen die allgegenwärtige Internet-Überwachung ist. Es ist natürlich auch dort nicht unmöglich.
  10. Twitter legt niemandem nahe, einen Wohnort, ein Geburtsdatum, die besuchten Schulen, die bisherigen Arbeitgeber und den Beruf anzugeben; Merkmale, die auch bei nur halber Vollständigkeit sehr häufig eine eindeutige persönliche Identifikation ermöglichen. Google Plus tut dies sehr wohl und nervt bei jeder Anmeldung mit einem dezenten Hinweis auf die fehlenden Daten.
  11. Twitter bietet keine Anbindung an einen Suchmaschinen-Quasimonopolisten. Twitter ist damit für SEO-Spammer (und das ist ein großer Teil der Web-Zwo-Nullspam) nur wenig attraktiv. Google zeigt hingegen zumindest zurzeit Links aus aktuellen Plus-Themen recht weit oben in den allgemeinen Suchergebnissen (zumindest, wenn man dort angemeldet ist), was auch den SEO-Spammern auffallen wird. Es steht zu erwarten, dass diese Art Spam auf Google Plus epidemisch werden wird, und da Google auch sonstige SEO-Schweinereien kaum in den Griff bekommt, ist meiner Meinung nach auch hier die Aussicht für Google Plus trübe.
  12. Twitter hat keine Nutzungsbedingungen, die Twitter das Recht einräumen, meine Mail zu lesen und inhaltlich auszuwerten. So frech und stinkenddreist ist nur Google.
  13. Twitter sperrt nicht nach Gutsherrenart Nutzer und sperrt sie dabei gleich von weiteren, für einige Nutzer essentiellen Webdiensten aus.
  14. Twitter hat ein niedliches blaues Vögelchen als Logo. Fiiiep! Viel hübscher als ein Additionszeichen. Und ein Tweet (also ein Fiepsen) ist eine viel hübschere Metapher als das eher abstrakte Google-Wort vom »Teilen«. Es ist trotz der technischen Natur des Mediums alles etwas liebenswerter bei Twitter, es hat mehr Schönwert.
  15. Die Twitter-Timeline wird nicht aufgebläht von einem gefühlten Gigabyte animated GIFs mit allerlei lustigen Szenen, was auch Browser auf modernen Rechnern in die Knie zwingen kann. Stattdessen pflegt man es, Links auf richtige Videos zu setzen.
  16. Die stummelhafte Kürze der Kommunikation auf Twitter reizt wenigstens einige Nutzer zur Kreativität an. Es gibt sogar regelrechte Twitterlyrik, manchmal tief und doch so flüchtig wie das Medium, in dem sie aufscheint.
  17. Twitter ist alles in allem ausgereift und fehlerfrei, Google Plus ist natürlich noch beta. Und damit Google Plus auch länger beta bleibt, hat es viele technisch versierte Menschen (die auch gute Fehlerberichte schreiben) mit seiner Klarnamenspflicht als gute Betatester vertrieben. Ich kenne keinen einzigen Programmierer unter seinem bürgerlichen Namen, wenn ich nicht gerade irgendwann einmal mit ihm im gleichen Büro gesessen habe.
  18. Twitter lügt seine Nutzer nicht offen an. Google Behauptung, die Angabe eines »richtigen Namens« sei ein Spamschutz, ist Bullshit und offene Lüge. So wird den Datenlieferanten Menschen auf Google Plus von Anfang an gezeigt, wie sie verachtet werden.
  19. Twitter hat einen Support, bei dem jemand namentlich antwortet, wenn man etwas meldet. Mir ist es jedenfalls bislang immer so ergangen. Google scheint es nicht so wichtig zu nehmen und tritt seinen Anwendern gegenüber anonym und technokratisch auf.

Hinter diesen Vorteilen Twitters verblassen seine zunächst groß erscheinenden Nachteile – vor allem das manifeste Spamproblem und die Unmöglichkeit, ein Thema sachlich fundiert zu diskutieren – beinahe zu einem Nichts. Für Diskussionen gibt es zum Glück bessere Möglichkeiten. Und Spam ist wie immer eine Frage des Umganges der Empfänger mit der Spam. Technische Lösungen sind nur die halbe Miete. Doch selbst bei den technischen Lösungen tut sich auf Twitter etwas.

Google Plus kann da noch nicht mithalten.

Einmal ganz davon abgesehen, dass Google Plus zurzeit auch »komische« Menschen anzieht. Menschen, die PR, SEO, fragwürdige Geschäfte oder irgendwas mit Medien machen und glauben, dass sie mehr geldwertes Klickvolk anziehen, wenn sie tausende von Menschen in ihre Kreise ziehen. Das Spamproblem auf Twitter ist ein Randproblem, vielleicht sind ein bis zwei Prozent der Nutzer Spammer – aber bei Google Plus ist Spam schon in der Betaphase eine zentrale Erscheinung in der Mitte des Dienstes. Wer es nicht glaubt, gebe in der Personensuche einen beliebigen Vornamen ein und schaue sich einmal an, wie groß der Prozentsatz lichtscheuen Gesindels ist, das dabei hervorgespült wird. Dieses Pack sieht in Google Plus nur ein mögliches Plus für das Bankkonto, um Kommunikation geht es dabei nicht.

Sollte die Tendenz dahin gehen, dass sich dieses spammige Geschmeiß mehr auf Google Plus konzentriert (allein schon wegen des Effektes auf Google-Suchergebnisse), wäre das für Twitter und das dortige Miteinander sogar ein riesengroßer Gewinn. Sollen sich die Spammer doch gegenseitig zuspammen. 😉

Google Plus? Das braucht kein Mensch. (Zumindest nicht, wenn er weiß, wo man an ein richtiges Blog kommt und wie man dieses Blog angemessen an Twitter anbindet.)

¹Hey, Twitter-Entwickler! Habt ihr euer »neues Twitter« mal auf einem Rechner ausprobiert, der auch nur fünf Jahre alt ist?! Nicht nur, dass die Benutzerführung übel ist, nein, diese »Anwendung im Browser« frisst erheblich Ressourcen und kann unfassbar träge werden. Manche Menschen – ich gehöre auch dazu – finden, dass Computer viel zu schade zum Wegwerfen sind, die Müllberge sind ja wahrlich hoch genug. Diese Menschen schließst du gerade aus. Ein deutlicher Hinweis auf die immer noch verfügbare Mobil-Version könnte viel Verärgerung über diese Entscheidung abfangen.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemeines abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert