In nicht allzuferner Zukunft in Deutschland…

Der Uniformierte mit den drei weißen Rauten auf der Schulter sagte immer wieder zu mir, als sei er ein Roboter: »Arbeiten sie mit uns zusammen, und sie werden ein freier Mann bleiben!«. Neben ihm stand ein Mann in Zivil, vermutlich ein Mitarbeiter des Ministeriums für Bevölkerungsinformation. Ausgewiesen hat er sich nicht. Hoffentlich muss ich mich mit denen nicht länger auseinandersetzen, die sollen nicht zimperlich sein.

Ja, sie haben mich gefunden. Nach all diesen Jahren. Haben. Sie. Mich. Schließlich. Gefunden. Und jetzt saß ich hier auf einem Stuhl, aus kurzem Schlaf gerissen, während der Keller durchsucht wurde und Dinge herausgetragen wurden.

Nein, ich habe nichts Illegales getan. Also nichts, was strafbewehrt ist. Ich habe in diesem Keller kein Cannabis angebaut oder Meth synthetisiert. Ich habe nur einen Verdacht erweckt. Die Geräte, die hier so lange standen, die nichts weiter als alte programmierbare Maschinen waren, sie waren nicht verboten. Sie erweckten nur einen Verdacht, und Sicherheit ist nun einmal über alle Grundrechte erhoben. Maschinen, die rechnen, Daten verarbeiten und mit anderen Maschinen kommunzieren können, sind ein Verdachtsgrund, wenn sich jemand so viel Mühe gibt wie ich, sie von den Fernsteuerungen der großen Konzerne und damit von der Überwachung durch das Ministerium für Bevölkerungsinformation freizuhalten; wenn sie mir dienen und nicht jemanden anders.

Wer darauf achtet, dass seine Freiheit respektiert wird, ist ein Sicherheitsrisiko.

Ich war immer noch nicht so richtig wach. Ich träumte vor mich hin, und der Traum wandelte meinen erlebten Albtraum in kindischem Narzissmus in das Erlebnis eines Freiheitskämpfers um. Freiheit ist längst zum Heldentum geworden, und der Versuch eines freien Lebens hat schon viele in die Sicherheitsgewährleistungsanstalten gebracht. Eine raue, sehr aggressiv wirkende Stimme zerriss das Gewebe meiner dummen Träume. Es war der Mann im Zivil. Scheiße! »Haben sie noch weitere Geräte«, fragte er mich. Oder besser: Forderte er mich auf, denn es war nur grammatikalisch eine Frage, in der Artikulation eher ein Befehl. Warum tragen die Uniformierten eigentlich Maschinenpistolen? Ich bin doch völlig friedlich. Ja. Ich bin. Am Boden zerstört.

»Nein«, sagte ich müde, schwach und ängstlich. Er war nicht zufrieden damit und hakte nach: »Sind sie sich ganz sicher?«. »Ja, ich bin mir sicher, ich weiß doch, was ich habe«, sagte ich mit etwas mehr Kraft. Er schaute beängstigend skeptisch, aber fragte nicht weiter. Hoffentlich nehmen die mich nicht mit aufs Amt. Inzwischen dürfen sie einen Gefährder für ein halbes Jahr festsetzen. Ohne Grund. Ohne Richter. Ohne Urteil. Nur auf Verdacht. Und ein Gefährder ist jeder, der Wert auf seine Privatsphäre legt. Die meisten Menschen können es inzwischen gar nicht mehr nachvollziehen, wieso jemand Wert auf seine Privatsphäre legen sollte. Man hat doch nichts zu verbergen. Die digitale Ausprägung des Konsumwahnsinns hat die Menschen längst zu Robotern gemacht, und niemand hat sich daran gestoßen, dass die Menschen dabei genau so einfach kalkulierbar und programmierbar wie Roboter geworden waren – ganz im Gegenteil, man freute sich über die künstliche Intelligenz, die die eigene Intelligenz und jede Anstrengung des Geistes entbehrlich macht. Dass jede Lebensäußerung, jedes Wort, jede Geste überwacht wird, stört niemanden mehr. Und wenn es mal stört, sagt man es lieber nicht, denn es wird ja alles überwacht. Man ist ja dabei gut unterhalten, die Raumtemperatur liegt im gesundheitlichen Idealbereich und der Kühlschrank bestellt jeden Tag leckeres und gesundes Essen. Die Krankenversicherung wird auch billiger. Gegen gefährliche Gefühle gibt es Medikamente im Essen. Und gegen gefährliche Gedanken die tägliche Versorgung mit Nachrichten des Ministeriums für Bevölkerungsinformation, die völlig frei von Hassrede und Fake News ist. Es herrscht Sicherheit, und ich bin ein Gefährder.

Während die letzten alten Geräte herausgetragen wurden, dachte ich an die vielen Menschen, bei denen ich mir unter konspirativen Umständen veraltete Hardware ohne eingebaute Überwachungsschnittstelle besorgt hatte. Ich dachte an die Keller dieser Menschen, die wie ein Informatikmuseum aussahen. Alles bewusst angeschafft und aus Schrott zusammengebastelt, weil wir daran glaubten, dass die Technik dafür da ist, uns Menschen zu dienen und nicht umgekehrt; weil wir uns Apparate nutzbar gemacht haben, um nicht zum Nutzvieh eines Apparates zu werden. Und wie gut sie mir gedient hatten, diese veralteten Geräte, wann immer ich in meinen Keller ging, um geistig aufzuatmen! Wie viele Stunden, Tage, Monate, Jahre ich hier schon im Rauschen der Lüfter und Licht der Monitore verbracht habe, getrennt von der Gesellschaft und doch in Gemeinschaft mit Menschen, deren Leben noch echt ist.

Wieder unterbrach diese Stimme die Flucht meiner Träume. »Isolierung?«, fragte der Mann im Zivil aggressiv in seinem gebieterischen Kasernenton. Mein »ja« war fast geflüstert; das leichte Nicken wohl wahrnehmbarer als das Wort. Es war sinnlos, zu leugnen, es würde mich nur für lange Zeit ins Gefängnis bringen. Konspirativer Widerstand gegen Ordnungsbehörden ist längst ins Strafgesetzbuch aufgenommen worden, und bis zu meinem Prozess hätte ich wegen der Sicherheit in Untersuchungshaft gesessen, so wie viele andere, deren Stimme plötzlich aus dem Netz verschwand und deren Sein zum Gerücht wurde. Der Mann im Zivil sprach mit dem Polizisten in der Kampfuniform mit den drei weißen Quadern auf den Schultern, dieser griff zu seinem kryptografischen Funkgerät und holte die bereitstehenden Spezialisten herein. Wo es der Sicherheit dient, ist Verschlüsselung ja sehr erwünscht. Fünf Techniker der Polizei kamen in den Keller. Sie schraubten geübt mit Akkuschraubern die leeren Regale von der Wand ab, und sie entfernten mit einem Spezialgerät die Tapete und die darunterliegende Alufolie gegen die verräterische elektromagnetische Abstrahlung, mit der ich meinen Keller vor den Funkpeilwagen des Ministeriums für Bevölkerungsinformation so lange verbergen konnte. Ich konnte es einfach nur geschehen lassen. Es war schon. Alles. Verloren.

Schließlich, nach einer halben Stunde, die mir endlos erschien, war es vorbei. Der Polizist sagte zum Abschied noch: »Sie bekommen demnächst eine Einladung von uns, Herr Schwerdtfeger«. Eine »Einladung«. So nennt man das also, wenn man sein Tun. Für Recht hält. Alle Geräte waren herausgetragen und für eine polizeiliche Untersuchung beschlagnahmt worden. Ich hatte keine Aussicht, sie jemals wieder zu besitzen. Auf dem Boden Regalbretter und abgeschraubte Schienen, in der Ecke ein leerer Schreibtisch und der Stuhl, auf dem ich saß. Sogar die Kugelschreiber wurden aus einem überhaupt nicht nachvollziehbaren Grund mitgenommen. Sie waren wohl sicherheitsgefährdend.

Das Rauschen der Lüfter, diese mechanische Stimme meiner sich verkriechenden Freiheit. War für immer. Verstummt.

Ich konnte nicht weinen. Ich saß mit geschlossenen Augen auf dem Stuhl und fühlte. Gar nichts mehr. Ein schnarrendes, regelmäßiges Geräusch erfüllte den kahlen Keller und machte mir Angst, und ich fragte mich immer wieder, wo es wohl herkomme. Es klang so fremd und feind. Ich brauchte Minuten, um herauszubekommen, was ich da hörte. Es war mein Atem.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemeines abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

3 Antworten zu In nicht allzuferner Zukunft in Deutschland…

  1. Bio sagt:

    Schön traurig und traurig schön.

    Lasse es Dir einigermaßen gut gehen!

  2. Denkakustiker sagt:

    Künstliche Intelligenz ist der Unrat mangelhafter Intelligenz und so dem Schwachsinn zu zuordnen !

    Zu – In nicht allzuferner Zukunft in Deutschland… 🙂

    Psychologie im Fadenkreuz +

    2040 – Treffen sich ein Mindcontroller und ein Bäcker auf der Straße.
    Da sagt der Mindcontroller zum Bäcker: »Du ich habe jetzt einen vollständigen Elefantenfick als Impulsdiagram auf Festplatte. Willste mal sehen ? «
    Darauf fragt der Bäcker: »Hast`e auch ein solches Diagram vor Dir selbst ? «
    Der Mindcontroller: « Nö, wie kommst`e denn darauf, bist`e pervers veranlagt ? «

    Der Bäcker: »Ich ganz bestimmt nicht. Aber wenn Du nichts zum vergleichen hast, wozu ist das dann gut ? »

  3. Denkakustiker sagt:

    Zwischen Elend und Sorge

    Die Erkenntnis zur eigenen Dämlichkeit wird geradezu reflexartig von der subjektiven Selbsterhaltung blockiert und nur darin wuchert unser aller Elend.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert